· 

Yellowhead- and Cassiar Highway

Das Abenteuer beginnt

Prince Rupert

Am nächsten Morgen schauen wir uns den Ort Prince Rupert an. Der Ort wurde 1905 als Endpunkt der Grand Trunk Pacific Railway ausgesucht, Kanadas zweiter großen transkontinentalen Eisenbahn. Es war ein hartes Stück Arbeit diese Eisenbahn zu bauen. 1340 Kilometer mussten durch Felsen gesprengt werden, 50 Männer ertranken während des Baus und insgesamt beliefen sich die Kosten auf ungefähr soviel, wie es kostete den Panama Kanal zu bauen. Charles M. Hays, Präsident der Grand Trunk Pacific Railway, war ein großer Befürworter und Antreiber des Baus der Eisenbahnlinie, doch leider ging er mit der Titanic 1912 unter. Doch sein Traum war weit genug gediehen, dass zwei Jahre später der erste Zug Prince Rupert erreichte und während des zweiten Weltkriegs kamen 73.000 Leute auf dem Weg zu Militäroperationen in Alaska und im südlichen Pazifik durch die Stadt.

Heute ist Prince Rupert der zweitgrößte Tiefseehafen an Kanadas Westküste und besteht aus vier verschiedenen Terminals für Container, Getreide, Holz und Touristen. Von hier wird Holz und Getreide nach Europa und Asien exportiert. Durch die Fährgesellschaften und die Kreuzfahrtschiffe strömen Touristen in den Ort.

 

Prince Rupert ist trotzdem ein kleines Nest geblieben. In höchstens zehn Minuten sind wir das Wichtigste abgegangen und setzen uns im CowBay Viertel in eine nettes, kleines Cafe.

 

Anschließend machen wir noch einen Abstecher zu dem North Pacific Historic Fishing Village. Leider hat es geschlossen und so können wir uns eine der letzten erhaltenen Fischkonservenfabriken nur von außen ansehen.  Früher gab es an der Westküste über 1000 dieser Canneries, denn der Fisch musste nach dem Fang sofort verarbeitet werden. 

Der Yellowhead Highway

Vancouver - Vancouver Island - Inside Passage - Yellowhead Highway (16) - Beginn des Cassier Highway (37)

Anschließend fahren wir auf dem Yellowhead Highway bis zur Kreuzung des Stewart-Cassier Highway. Das ist hier im Norden eine Besonderheit. Alles orientiert sich an den Highways und Ortsangaben erklärt man auch in Bezug auf die Highways. Sie haben alle einen Namen und so wird sich auch mein Geschriebenes danach richten. Der Yellowhead Highway ist eine der großen West-Ost Strecken und führt eigentlich nach Osten bis nach Edmonton, doch wir biegen nach 230 Kilometer ab auf den Steward Cassier Highway, der nach Norden führt, und setzen uns dort auf einen recht netten Campingplatz. Leider holt uns jetzt hier das erste Mal die Mückenplage ein, so dass wir trotz ganz schönem Wetters im Wohnmobil essen.

 

Am nächsten Morgen geht es noch einmal ein kurzes Stück zurück, denn wir schauen uns in Hazelton das Ksan Historical Village an, eine Rekonstruktion eines ehemaligen indianischen Dorfes, das jahrhundertlang genau an dieser Stelle, dem Zusammenfluss des Skeena und des Bulkley Flusses stand. Wir bekommen bei einer Privatführung (von einer Indianerin und deren ipod auf Deutsch) einen hervorragenden Eindruck von der Stammeskultur der Gitxsan-Indianer vermittelt. Unsere Führerin, Charlene, erklärt uns  die verschiedenen Longhouses,  aus Zedernholz gebaute Häuser, in denen jeweils ein Clan gelebt hat. Die Zeder spielte eine große Rolle in der indianischen Kultur, da die Indianer alle Teile dieses Baumes verwerteten. Sie bauten Häuser, Kanus, schnitzten die Totempfähle, webten aus den Fasern der Rinde Decken und Umhänge, flochten Seile und bauten Truhen, um Wichtiges aufzubewahren.

Vor den Longhouses stehen kunstvoll geschnitzte Totempfähle und wir erfahren, dass diese die Geschichte des jeweiligen Clans erzählen. Totempfähle liest man von unten nach oben, vom soliden Sockel bis zur Figur an der Spitze, die zum Himmel und auf unbegrenzte Möglichkeiten deutet. Hier in dieser Gegend lebten und leben immer noch Nachfahren des Adler-, des Wolf-, des Frosch- und des Feuerkrautclans. Das Volk der Gitxsan umfasst heute noch über 10.000 Menschen. Davon leben fast 3500 in und um Hazelton. Wir finden es sehr interessant Einblick in diese Kultur zu bekommen.

 

Danach fahren wir auf dem Cassiar Highway weiter nach Norden.

 

Der Cassiar Highway

Der Cassier Highway ist 732 Kilometer lang und verbindet den Yellowhead Highway mit dem Alaska Highway im Yukon. Einst war es ein Handelsweg der Indianer, die Fischöl von der Küste gegen Elchhäute aus dem Landesinneren tauschten. Später zogen auch Goldgräber auf ihm nach Norden. Als Straße wurde die Strecke erst 1972 als Schotterpiste fertiggestellt und diente dazu Holz aus den Wäldern und vor allem Asbest aus der Cassiar Mine zum eisfreien Pazifikhafen Prince Rupert zu transportieren. Inzwischen sind die Wälder neu angepflanzt und Asbest benötigt niemand mehr, deshalb ruhen die Hoffnungen auf den Touristen, die man mit dem Slogan „North to Adventure“ hierher locken möchte. Unser Führer beschreibt den Cassier Highway als Strecke für Natur- und Wildnisenthusiasten, denn an der gesamten Strecke gibt viel unberührte Natur und kaum irgendwelche Versorgungspunkte.

 

Nachdem wir uns in dem Dörf Gitwangak noch einmal Totempfähle aus dem 19. Jahrundert angeschaut haben,  fahren wir auf einen wunderschön am See gelegenen Campingplatz an der Meziadin Junction. Auf dem Weg dorthin begegnen wir am Highwayrand unserem ersten Jungbären. Unbeirrt von den Autos sucht er am Straßenrand nach Nahrung. Dünn und ausgemergelt sieht er aus nach dem harten Winter. Überglücklich über unsere erste Bärensichtung entstehen einige schöne Bilder. Und dann geht es Schlag auf Schlag. In den nächsten 30 Minuten sehen wir noch vier weitere Bären,  zwei Jungbären und zwei ältere Schwarzbären. Jedes Mal muss Armin auf dem Highway umdrehen, was aber kein Problem darstellt, das fast kein Verkehr ist.    

An der Meziadin Junction finden wir einen wunderschönen an einem See gelegenen Campingplatz. Wir essen in herrlicher Abendsonne mit Blick auf den See. Wir merken deutlich, dass wir jetzt weiter oben im Norden sind, denn die Sonne geht erst um 22.15 unter und es ist fast bis Mitternacht und schon wieder ab 4.30 Uhr hell. Armin hat unsere oberen Fenster schon dauerhaft abgedunkelt. Die Verpackung von Timbas Hundebox klebt jetzt, wegnehmbar gemacht, am Fenster.

Steward und Hyder

Am nächsten Tag machen wir einen landschaftlich traumhaft schönen Abstecher zu den „Städten“ Steward und Hyder. Wir durchfahren das Küstengebirge, bestaunen unterwegs den Bär-Gletscher und sehen immer wieder Wasserfälle, die auf beiden Seiten der Straße ins Tal rauschen. Das Besondere an den beiden Orten, die am Ende der Straße liegen, ist ihre Lage. Hier endet der Portland-Kanal, durch dessen Mitte die Grenze zwischen Kanada und Alaska verläuft.  Steward liegt also noch in British Columbia und Hyder, nur zwei Kilometer weiter, ist die südlichste Stadt Alaskas. Natürlich fahren wir über die Grenze. Die Amerikaner haben hier nicht einmal einen Grenzposten, denn Hyder ist von British Columbia und durch hohe Berge vom Rest Alaskas abgeschnitten. Die Kanadier hatten es ihnen gleich getan, doch seit einigen Jahren gibt es nun wieder einen kanadischen Grenzposten. Die nette Grenzbeamtin erklärt uns, dass es in Hyder einen Gun-shop gebe und einige Waffen bei Verbrechen in Kanada aufgetaucht seien. Aus diesem Grund wurde der kanadische Grenzposten wieder aktiviert.

In Hyder ist sozusagen nichts los. 84 Leute wohnen hier angeblich noch. Es wirkt fast wie eine Geisterstadt. Für uns interessant ist die Fish Creek Bear Viewing Area. Hier kann man von Mitte Juli bis Ende August die Lachswanderung beobachten und dazu die Bären, die versuchen sich die Fische aus dem Fluss zu fangen. Man wäre auf den gebauten Stegen nur fünf Meter von den Bären entfernt. Leider sind wir jahreszeitmäßig zu früh dran für dieses Spektakel und so sehen wir nur einen Fluss.

Ansonsten gibt es nur noch die Glacier Inn Bar zu besichtigen, deren Wände komplett mit Geldscheinen gepflastert sind. Die hübsche Kellnerin erklärt uns, dass einige Goldsucher vor ihrem Aufbruch einen von sich selbst signierten Geldschein an die Wand klebten, damit sie sich bei ihrer Rückkehr zumindest noch einen Drink kaufen konnten, auch wenn sie sonst alles verloren hatten.

Nach diesem Ausflug nach Alaska unternehmen wir noch eine Radtour in Steward. Man kann sich nicht vorstellen, dass um 1900 hier 10.000 Menschen gelebt haben sollen. Heute sind es um die 500 Einwohner und außer einigen Cafes und der Bäckerei Temptation gibt es hier nicht viel anzuschauen. Die Landschaft ist wunderschön, aber da wir ja am Starnberger See mit Alpenpanorama wohnen, sind wir schon sehr verwöhnt und finden, dass die Bergwelt gar nicht soviel anders ist als zuhause der Walchensee oder der Sylvensteinspeicher (bis auf Gletscher und Bären).    

Der Salmon Glacier

Eigentlich wollen wir schon fahren, da fällt mir ein, dass wir ja noch Geld auf die Kreditkarte überweisen wollen. Da wir Bankgeschäfte nur über die gesicherte VPN-Leitung abwickeln und das Internet auf dem Campingplatz schlecht ist, geht es noch einmal in das Café im Steward. Dort treffen wir andere Deutsche, die uns ans Herz legen, unbedingt noch zum Salmon Gletscher zu fahren. Das sind zwar 25 Kilometer auf einer Dirt Road, aber dieser Gletscher sei sehr sehenswert. Wir sind uns nicht sicher, ob wir das tun sollen. Irgendwann auf dieser Reise haben wir gemerkt, wenn wir uns bei einer Entscheidung unschlüssig waren und es trotzdem getan haben, haben wir es nie bereut. Also beschließen wir noch einmal „die USA“ zu durchqueren um nach Kanada zum Salmon Gletscher zu fahren. Und wir haben es wirklich nicht bereut. Nach 20 Kilometern sehen wir die Gletscherzunge und dann geht es immer an dem riesigen Eisfeld entlang, bis wir den Ursprung des Gletschers sehen. Es ist sehr beeindruckend, in die blau schimmernden Eisspalten hineinschauen zu können. Obwohl am südlichen Ende Alaskas oder am nördlichen Ende British Columbias gelegen (das wissen wir nicht genau), ist der Salmon Glacier der fünftgrößte Gletscher Alaskas und ziemlich beeindruckend.

 

Zurück geht es dann wieder über den kanadischen Grenzposten nach Steward und dann die 60 Kilometer zurück bis zum Cassier Highway, auf dem wir uns dann weiter nach Norden bewegen.

Kanada wie man es sich vorstellt: Einsamkeit, keine Orte in den nächsten 600 Kilometern, tiefblaue Seen umgeben von hohen schneebedeckten Bergen, wilde Flüsse, Wasserfälle, zwei weitere Schwarzbären, die an der Straße stehen und poussieren. Einer davon kommt sogar neugierig auf das Auto zu, doch Armin gibt lieber Gas.

Wir unterbrechen die Fahrt, übernachten an einem wunderschön gelegenen Campingplatz und wandern noch zu einem kleinen See. Ein Weißkopfseeadler fliegt über unseren Köpfen auf, doch leider ist er zu schnell für ein Foto.

Am nächsten Tag fahren wir den Cassier Highway zu Ende bis er auf den Alaska Highway trifft. Der einzige nennenswerte Halt, den wir machen, ist in Jade City. Hier in den Minen in den Bergen wurde früher Asbest abgebaut und in der Nähe von Asbestvorkommen gibt es auch häufig Jade zu finden. Heute werden hier 90 % der weltweit geförderten Jade aus dem Boden geholt. Immerhin stehen in Jade City drei Häuser und eines davon ist ein Jadeshop, in dem man das Produkt fertig verarbeitet kaufen kann.

 

Canada Day

Am Samstag, den 1. Juli, feiert Kanada seinen 150. Geburtstag. Hierzu gibt es einen hervorragenden Artikel in der FAZ, den ich hier für die, die es interessiert, kopiere. Der Author Andreas Ross beschreibt auch die Unterschiede zwischen den USA und Kanada so wie wir es auch erleben:

 

150 Jahre Kanada

Stolz auf den Mangel an Stolz

Kanada feiert seinen 150. Geburtstag. Vor genau anderthalb Jahrhunderten wurde das Land, das heute das zweitgrößte der Erde ist, gegründet. Ihre Identität finden viele Kanadier aber nicht in der Geschichte, sondern in der Abgrenzung zum Nachbarn.

30.06.2017, von ANDREAS ROSS

 

Zum 150. Geburtstag: Oh, wie schön ist Kanada

Die Stadt Ottawa richtet sich darauf ein, dass am Samstag fast eine halbe Million Kanadier auf den Parlamentshügel strömen, um das große Geburtstagsständchen mitzuerleben. In Toronto dürfen sich Einwohner und Touristen auf die größte Gummiente der Welt freuen: Sie ist quietschgelb, hoch wie ein Sechsetagenhaus und soll exakt 150 Jahre nach der Gründung Kanadas in den Hafen der Millionenmetropole einlaufen. Zigtausende Kanadier zwischen Vancouver und Neufundland werden am „Canada Day“ Zeremonien besuchen, wo sie auf Englisch und Französisch einen Eid nachsprechen sollen, um ihre Zugehörigkeit zu diesem Land zu „bekräftigen“: ihre Untertanentreue zu Königin Elisabeth und deren Erben, ihre Gesetzestreue gegenüber dem kanadischen Recht und ihre staatsbürgerlichen Pflichten. Nur dass diese Nation genau jetzt genau anderthalb Jahrhunderte alt sein soll, das leuchtet vielen Kanadiern nicht ein.

 

Es steht zwar außer Frage, dass am 1. Juli 1867 der „British North America Act“ in Kraft trat, der mit Billigung von Königin Viktoria aus ursprünglich drei Kolonien einen Bundesstaat mit zunächst vier Provinzen und dem Namen „Dominion of Canada“ machte. Doch den meisten Intellektuellen des Landes gilt das heute nur noch als eine historische Wegmarke unter vielen. Es gehe doch nur um ein Dokument, lästerte der Schriftsteller Stephen Marche in der „New York Times“, welches „ein Haufen alter weißer Männer unterzeichnet hat, um ein paar vom britischen Empire beherrschte Provinzen in einer schwammigen und übellaunigen Union zu verbinden – ohne die geringste Berücksichtigung oder Beteiligung der Ureinwohner“.

 

Ein angeblich 150. Geburtstag

Zum einen haben viele der Völker, die heute in mehr als 600 anerkannten „First Nations“ organisiert sind, das kanadische Staatsterritorium schon vor Tausenden Jahren bevölkert. Die europäischen Siedler wurden meist mit offenen Armen empfangen, begannen im 19. Jahrhundert aber trotzdem große Assimilierungskampagnen – in denen sich nicht etwa die Neuankömmlinge anpassen, sondern die „Indianer“ unterwerfen sollten. Das schlechte Gewissen über diese kolonialistischen Ursünden prägt Kanadas nationale Identität viel stärker als in den Vereinigten Staaten. Dieses Jahr mindert es die Lust vieler Bürger, einen angeblichen 150. Geburtstag ihres Landes zu feiern.

Zum anderen wähnen viele Kanadier ihre Nation viel jünger. Erst in den sechziger Jahren verzichtete das Land auf den Union Jack und flaggte das rote Ahornblatt. Als Nationalhymne löste „O Canada“ erst 1980 „God Save the Queen“ ab, und den entscheidenden Sprung in die nationale Souveränität (innerhalb des Commonwealth) machte das Land noch zwei Jahre später. Da erst „patriierte“ Kanada die Verfassung, verschaffte sich also das Recht, sein Grundgesetz ohne britische Zustimmung zu ändern, und setzte eine „Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten“ in Kraft. Nähme man das als Geburtsstunde des heutigen Kanadas, so wäre jetzt eine schmissige Party zum Fünfunddreißigsten angesagt.

Klare Abgrenzung vom übermächtigen Nachbarn

Stephen Marche sind die Skrupel seiner Landsleute, in den Geburtstagsjubel einzustimmen, sympathisch: „Ich bin stolz auf mein Land“, schrieb er, „für dessen Mangel an Stolz.“ Das mag in deutschen Ohren vertraut klingen, aber der Kontrast zum einzigen direkten Nachbarn könnte größer nicht sein. Wenn die Amerikaner drei Tage nach dem „Canada Day“ ihren Unabhängigkeitstag begehen, ist für Selbstzweifel wenig Raum. Kanadische Gedanken über die nationale Identität kommen selten ohne eine klare Abgrenzung vom übermächtigen Nachbarn im Süden aus.

Nie war der Kontrast schärfer als im Jubiläumsjahr 2017. In den Vereinigten Staaten hat ein gespaltenes, von Wut und Misstrauen gegen die „Elite“ erfülltes Volk einen Populisten zum Präsidenten gewählt, der „Amerika zuerst“ zu seinem Leitspruch gemacht hat, die alten Tage weißer Dominanz hochleben lässt und Ängste vor Einwanderern schürt. In Kanada regiert ein smarter Ministerpräsidentensohn, der wenig Aufruhr verursachte, als er 2015 in einem Interview sagte: „Wir haben in Kanada keinen Identitätskern, keinen Mainstream.“ Es gebe nur gemeinsame Werte, fügte Justin Trudeau an, wie „Offenheit, Respekt, Mitgefühl sowie die Bereitschaft zu harter Arbeit, zum Füreinanderdasein und zur Suche nach Gleichheit und Gerechtigkeit, ... die uns zum ersten postnationalen Staat machen“.

So sattelte Trudeau auf den Multikulturalismus auf, den einst Ministerpräsident Pierre Trudeau – Vater des heutigen Regierungschefs wie des heutigen Kanadas – zur Staatsräson erhoben hatte. Das war nicht zuletzt ein Kniff gewesen, um den in den frühen siebziger Jahren aufflammenden Separatismus in der französischsprachigen Provinz Québec einzudämmen. Trudeau senior kalkulierte, dass eine gesteuerte Masseneinwanderung aus allen Kulturkreisen die Differenzen zwischen französisch- und englischsprachigen Kanadiern einebnen werde. Die Rechnung ging auf.

Voriges Jahr war Trudeau junior der erste Regierungschef seines Landes gewesen, der bei der „Pride Parade“ mitlief, um sich für Homosexuellenrechte starkzumachen. Weil die Parade dieses Jahr am Tag des Fastenbrechens nach dem Ramadan abgehalten wurde, trug Trudeau bunte Socken mit dem traditionellen Gruß „Eid Mubarak“ (Gesegnetes Fest). Donald Trump dagegen verzichtete als erster Präsident seit mehr als zwanzig Jahren darauf, an dem Tag Muslime ins Weiße Haus zu laden. Trudeau hatte seine Wahl 2015 nicht zuletzt mit dem Versprechen gewonnen, mehr syrische Flüchtlinge aufzunehmen, Trump hat einen Einreisestopp verhängt.

Während sich der amerikanische Präsident beim Unterzeichnen von Dekreten fast nur mit weißen Männern zeigt, hat der bekennende Feminist Trudeau die Hälfte aller Kabinettsposten für Frauen reserviert. Sein Verteidigungsminister Harjit Sajjan und sein Einwanderungsminister Ahmed Hussen sind nur zwei von etlichen Politikern im Kabinett, deren Nachnamen auf Wurzeln außerhalb Europas verweisen. Trudeau plädiert leidenschaftlich für freien Handel und eine liberale Weltordnung. Während Trump eine Mauer an der Grenze zu Mexiko plant, hat Kanada die Zahl der jährlich aufzunehmenden Einwanderer auf 300000 erhöht. Das entspricht fast einem Prozent der Bevölkerung. Die Hälfte der Bewohner des Großraums Toronto wurde im Ausland geboren; in Ottawa, Montreal, Vancouver und in der Ölstadt Calgary, die von einem muslimischen Bürgermeister regiert wird, ist es nicht viel anders. Längst hat sich neben Ahornblatt und Eishockeyschläger der Polizist im Turban als Symbol einer kanadischen Nationalidentität etabliert.

Mulitikulturalismus und UN-Peacekeeping

Fast zehn Jahre lang hatte Trudeaus direkter Amtsvorgänger Stephen Harper andere Akzente gesetzt. Wenn er am „Canada Day“ sprach, dann ging es viel um das Militär und die Sicherheit, die Wirtschaft und den Wohlstand, nicht aber um Multikulturalismus oder UN-Peacekeeping. Wie Harpers Wahlsiege zeigten, hat dieser Konservatismus in Kanada durchaus seine Anhänger. Er darf nur nicht zu republikanisch-amerikanisch daherkommen, um mehrheitsfähig zu sein. Die konservative Politikerin Kellie Leitch, die kürzlich mit der Forderung Furore machte, Einwanderer auf „antikanadische Werte“ zu überprüfen, errang in der Urwahl des neuen Parteichefs vorigen Monat gerade einmal acht Prozent. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten bemühen sich in Kanada auch die Konservativen intensiv um die Unterstützung von Neubürgern, anstatt sie von vornherein den Linken zu überlassen. Praktisch alle kanadischen Parteien sind heutzutage auch eingewanderten Wählern verpflichtet.

Der große Nachbar mit der etwas kleineren Fläche, aber neunmal so großen Bevölkerung ist für Kanada freilich mehr als ein Vergleichsmaßstab. Ohne seine geographische Lage zwischen zwei Ozeanen und einer verbündeten Supermacht hätte sich das Land kaum so entfalten können. Unkontrollierte Zuwanderung war nie ein großes Problem für die Regierung in Ottawa, der es entsprechend leichter als anderen westlichen Regierungen fiel, die Bevölkerung für die bedarfsgesteuerte Einwanderung von Fachkräften oder die Ansiedlung ausgewählter Flüchtlinge zu gewinnen. Trudeau weiß, dass sich der Multikulturalismus nur im Windschatten des kraftstrotzenden Nachbarimperiums zu einem identitätsstiftenden Merkmal seines Landes entwickeln konnte.

Das Punktesystem für Einwanderung

In der Nacht, in der Donald Trump die Präsidentenwahl gewann, brach die Internetseite des kanadischen Einwanderungsdienstes zusammen, wo sich Interessenten über das sogenannte Punktesystem informieren und Anträge stellen können. Doch sosehr Trudeau es genießen dürfte, als Anti-Trump international noch mehr bewundert zu werden, so sehr vermeidet er es, die Differenzen mit Washington zuzuspitzen. Kürzlich lobte er, dass nach seiner Erfahrung auf das Wort des amerikanischen Präsidenten Verlass sei. Allerdings hat die Regierung jetzt massive Militärinvestitionen angekündigt, die ein Liberaler wie Trudeau ohne Trumps Druck kaum je in Angriff genommen hätte. Zugleich nutzt Kanada seine enge Verflechtung mit dem Nachbarn und pflegt generalstabsmäßig die Kontakte zu Kongressmitgliedern, Gouverneuren, Bürgermeistern, Wirtschaftsbossen und Meinungsmachern südlich der Grenze, um möglichst viel Einfluss an Trump vorbei zu nehmen.

Für Justin Trudeau markiert der „Canada Day“ nur die letzte Etappe einer Feierstrecke. Vorige Woche hatte sie mit dem Nationalen Ureinwohnertag begonnen. Drei Tage später folgte der Saint-Jean-Baptiste-Tag, in Québec besser bekannt als „Nationalfeiertag“. Nach dem Multikulturalismustag am Dienstag sieht sich das moderne Kanada nun dafür gerüstet, seinen runden Geburtstag zu begehen. Sollte der Ministerpräsident trotzdem meinen, dass irgendeine Säule des postnationalen Kanadas beim Jubilieren zu kurz gekommen sei, so kann er sich im

mer noch bunte Socken drucken lassen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0